Für meinen Großvater

EDUARD

Wenn ich meine Augen schließe und an Eduard denke, sehe ich ihn im Garten. Er steht einfach nur da. Er hat eine Brille auf, eines dieser altmodischen Gestelle mit den dicken Gläsern und dem dicken dunklen Rand. Durch diese Brille schaut er auf mich herab. Nicht aus Überheblichkeit. So einer ist er nicht. Er schaut von oben, weil ich noch klein bin, ich reiche ihm gerade bis zum Bauch. Ich schaue zu ihm hoch, vorbei an seinen riesigen Händen, vorbei an seinem nicht minder großen Bauch, halte meinen Blick kurz an seiner Nase fest, die auch nicht gerade klein ist. Und dann schaue ich ihm in die Augen. Sie lächeln. Aber er hört schwer, was die Kommunikation mit einem Kind nicht einfach macht. Ich sage irgendwas, aber ich bin ja noch so klein und leise, dass meine Stimme nicht den Weg nach oben, vorbei an Händen, Bauch und Nase schafft und sich irgendwo dazwischen verliert. Ich würde gerne in Kontakt treten mit diesem Mann, meinem Opa, der so gewaltig und so gezeichnet aussieht. Aber irgendwie will mir das nicht gelingen. 

Und nun, viele Jahre später, ist er gestorben. Mit 77 Jahren hat seine Lunge aufgehört zu atmen, hat sein Herz aufgehört zu schlagen. Ein Herz, dass, wie ich jetzt von anderen erfuhr, ganz warm und weich geschlagen haben muss. Ein Herz, das nicht lügen konnte oder wollte, das gutmütig war wie das Herz eines sanften Riesen. 

Dass wir so wenig gesprochen haben, lag nicht nur an mir. Eduard war generell kein Freund großer Worte. Wenn er heute an meiner Stelle stehen und von seinem Leben erzählen sollte, dann hätte er vielleicht nur abgewinkt, hätte sich umgedreht und wäre gegangen. Insgeheim aber – und da bin ich mir ganz sicher – hätte sein Herz schneller geschlagen als sonst. Ganz tief in sich wäre er wahnsinnig stolz gewesen und hätte sich gefreut, dass wir heute alle hier sind und ihn auf seinem letzten Weg begleiten. 

Dass ich heute hier stehe und über ihn spreche, wo ich doch so wenig mit ihm gesprochen habe, empfinde ich als eine große Ehre. Und vielleicht sitzt er ja hier irgendwo in dieser Kapelle unter uns und hört zu. Hört von seinem Leben und dem Dorf Klein Vielen, in dem er dieses Leben gelebt hat.

Lasst uns einen Moment die Augen schließen und mit ein bisschen Mut und Fantasie durch Zeit und Raum reisen. Dorthin, wo alles begann.

Es ist Sonntag, der 10. September 1922. Wir befinden uns in einer idyllischen Gegend im nordwestlichen Mecklenburg, genauer gesagt, in einem Dörfchen namens Klein Labenz. Hierher hat es Andreas und Katarina verschlagen. Sie sind aus Polen gekommen und haben neben ihren Habseligkeiten auch eine ganze Schar Kinder mitgebracht. Den Ludwig und den Paul, den Stefan, den Kashmir, die Anna und die Hannelore. An diesem 10. September also gesellt sich ein weiteres Kind zu ihnen. Andreas und Katarina geben ihm den Namen Eduard. 

Wir würden gerne noch ein Weilchen bleiben und dem kleinen Eduard beim Wachsen zuschauen. Würden gerne wissen, womit er gespielt, wovon er geträumt hat. Doch das ist uns nicht vergönnt. Ein Krieg bricht aus, der zweite, der sich über die Welt zieht. Er greift sich, was er bekommen kann. Eduards Brüder müssen an die Front. Der Älteste, Ludwig, verliert ein Bein und von Kashmir verliert sich jede Spur. Vielleicht haben sich auch die Spuren der Erinnerung verloren. Jenen Erinnerungen, die von der Kindheit erzählen, von dem Leben vor dem Krieg. Eduard jedenfalls hat nie über dieses Vorher gesprochen. Auch er muss an die Front, muss mit 20 Jahren Dinge sehen und Erfahrungen machen, die sich wie tiefe Wunden in die Seele schneiden. Und auch darüber verliert er kein Wort. Jedenfalls nicht freiwillig. 

Doch es gibt jemanden, der immer wieder fragt, der alles ganz genau wissen will, der die Erinnerungen und Geschichten aufsaugt wie ein Schwamm. Dieser kleine Schwamm heißt Juri. Und ist Eduards erstes Enkelkind. Wenn er mit Juri im Trabi über die staubigen Feldwege fährt oder ihm in der Garage zeigt, wie man Kaninchenställe baut, lässt er den Geschichten Raum. Er erzählt von dem Moment, in dem er dem Feind Gewehr an Gewehr gegenübersteht und beide nicht schießen wollen und sich in nur einer Sekunde für das Leben entscheiden und weglaufen. Er erzählt, wie es sich anfühlt, wenn der Tod ganz nah ist und man nicht weglaufen, sich nicht verstecken kann. Er erzählt von dem Kameraden, der sein eigenes Leben riskiert und ihn Kilometer um Kilometer ins Lazarett schleppt. 

Doch zwischen dem Erzählen dieser Erinnerungen, zwischen Juri, Trabi und Kaninchenstall, liegen viele Jahre. Also drehen wir die Zeit noch einmal zurück und ankern im Jahr 1950 in einem Dorf namens Klein Vielen. Es riecht nach Kuhmist und mit den paar schiefen Häuschen und der buckligen Straße gleicht das Dorf eher einer Ruine als einem Ort zum Leben. Hierher hat es Eduards Eltern inzwischen verschlagen. Eduard ist 28 und vom Krieg gezeichnet. Aber er lebt. Und ist in seine Heimat zurückgekehrt. Wie gesagt, das Dörfchen heißt Klein Vielen und es ist bei aller Nachkriegsarmut doch schön hier. Hier will er bleiben. Mit seinen Eltern wohnt er in einem Haus, versorgt die Tiere und eigentlich fehlt es ihm an nichts. Eigentlich. Und eigentlich fällt ihm erst auf, dass ihm etwas fehlt, als er wieder mal mit seinem Akkordeon auf dem Dorffest zum Tanz spielt. Da ist sie: Henriette. Eduards Akkordeon lässt die rote Sonne im Meer bei Capri versinken und Henriette tanzt. Das magere Mädchen, das Flüchtlingskind aus dem Sudetenland, trifft ihn mitten ins Herz. Und auch Henriette ist nicht abgeneigt. Sie hat auf der Flucht Hunger und Hölle erlebt und keine Chance, sich auszuruhen oder mit dem Schicksal zu hadern. Das würde ihr auch niemals einfallen. Wer essen will, muss arbeiten. Und so heuert sie ein paar Tage später auf dem Hof von Eduards Familie an und stellt fest, dass der kräftige Bauernjunge mit dem Akkordeon eine hervorragende Partie ist. Die beiden heiraten. 

Als die kleinbäuerlichen Wirtschaften Anfang der 50er Jahre zu LPGs zusammengeschlossen werden, gehen Eduard und Jetti mit Eifer voran und gründen in Klein Vielen die LPG Karl-Marx. Sie stecken viel Kraft und Arbeit in die Sache. Aber Arbeit ist bekanntlich nur das halbe Leben. Und so leisten sie sich Anfang der 60er einen Fernseher der Marke Derby. Es ist der erste im ganzen Dorf. Ein brauner Kasten mit einem so kleinen Bildschirm, dass man ganz nah heranrücken muss, wenn man etwas erkennen will. Und alle wollen etwas erkennen. So ist das Wohnzimmer der beiden einmal in der Woche voll. Traktoristen, Melker und Küchenfrauen, das halbe Dorf versammelt sich zur Fernsehschau und amüsiert sich beim „Blauen Bock“ oder heiterem Beruferaten.

1962 ist nicht nur die Gründung der LPG abgeschlossen. Eduard und Jetti haben sich inzwischen ein eigenes Haus gebaut und Jetti hat zwei Kinder zur Welt gebracht. Im Januar 1951 Arvid und im November darauf Marlies. Es sind zwei muntere Kinder, die allerlei Schabernack treiben. Eduard nimmt es ihnen nicht krumm. Kinder sollen Kinder sein. Er ist der Fels in der Brandung, wenn Arvid mit dem Katschi auf Tauben zielt und Scheiben trifft. Oder wenn Marlies Schnapsfläschchen im Stroh findet und sich mit ihren Freundinnen einen lustigen Nachmittag macht.

Nur wenn etwas richtig schief geht, so ein Schiet passiert, dass er nicht weiter weiß und sich immer wieder fragt „Wie moken wir dat bloß?!“, springt Jetti ein und regelt die Dinge. Auf Jetti ist immer Verlass. Wie ein Orkan tobt sie durch’s Dorf, macht den Faulenzern Feuer und den Unentschlossenen Mut. Wer essen will, muss arbeiten. Wer feiern will, erst recht. Und Eduard arbeitet. Er macht seinen Meister in Rinderzucht, bildet im Klein Vielner Kuhstall Lehrlinge aus und qualifiziert sich zum Besamungstechniker weiter. Sein Ehrgeiz zahlt sich aus. Als Anerkennung dafür, dass er die Milchleistung der LPG beträchtlich steigert, erhält er eine Reise nach Moskau, residiert im Hotel Ukraine und bringt eine Armbanduhr und ein Kofferradio mit nach Hause. Von dieser Reise erzählt er immer wieder. Nicht zuletzt, weil für Urlaub und Reisen sonst kaum Zeit bleibt. Die Arbeit eines Bauern fordert ständige Bereitschaft. Und so knattert Eduard Tag für Tag mit seinem Motorrad von einem Kuhstall zum nächsten, auf dem Rücken das Besamungsgerät und auf dem Sozius nicht selten Arvid oder Marlies. Seine offizielle Berufsbezeichnung lautet Inseminator, aber alle nennen ihn nur liebevoll Edschu, den Rucksackbullen. Manchmal hält er inne. Dann lässt er seinen Blick über die Weiden schweifen, zeigt auf die Rinder, die in der Sonne dösen, und verkündet mit Stolz: „Dat sinn all mien Kinner!“.

Auch zu Hause bleibt es nicht bei zwei Kindern. Mit 46 wird Eduard noch einmal Vater. Tanja kommt auf die Welt und bringt neues Leben in die Dorfstraße 10. Während Marlies und Arvid sein besonnenes Naturell geerbt haben, zischt Tanja durchs Haus wie eine Rakete. Und wieder nimmt es Eduard gelassen. Zum Beispiel, wenn seine Jüngste fetzige Klamotten gerade in den Töpfen färbt, in denen sonst sein geliebter Eintopf kocht. Oder aus der Schule Beschwerden kommen, dass mal wieder Federtaschen aus dem Fenster geflogen sind. Und während Jetti für Ordnung sorgt, die Töpfe in den Schrank und die Probleme aus dem Weg räumt, zieht sich Eduard zurück und hält mit seinem besten Freund ein Schwätzchen. Und nein, ich spreche nicht von Juri, der kommt ja erst viel später zur Welt. Ich spreche von einem anderen Freund. Einem Freund, der die Zunge lockert und den Magen wärmt. Einem Freund, der beim Schlachten der Hühner unentbehrlich ist und auch mal mit im Stall sitzt, wenn Eduard seinen Schweinen Geschichten erzählt. Ich spreche von einem Freund, den Eduard verstecken muss - weil Jetti ihn nicht leiden kann. 

Anfang der 70er Jahre wird Eduard ein Traum erfüllt. Endlich erhält er einen Dienstwagen. Einen Trabant, so knallorangefarbenen, dass alle ihn nur „die Appelsine“ nennen. Von nun an kurvt er mit der Appelsine über die Dörfer und macht sich als echtes Verkehrshindernis einen Namen. Das Autofahren macht ihm Spaß. Genauso wie das Schwimmen, was er auch nicht wirklich beherrscht. Im Auto wie im See rudert er mit den Armen und steht dabei mit einem Bein fest auf Pedal oder Boden. Ihn stört es nicht. Denn Jetti ist ja auch nicht besser. Während er mit der Appelsine gleich zweimal hintereinander in denselben Blitzer fährt, landet Jetti mit dem Motorrad im Misthaufen. Die Dinge laufen eben nicht immer wie geplant. 

Dabei ist Eduard ein ausgezeichneter Planer. Dutzende Obstbäume pflanzt er auf dem hinteren Grundstück und protokolliert jede Sorte und das Pflanzdatum akribisch. Äpfel, die er so gerne isst, Birnen, die wie Zucker schmecken, Pflaumen, die nach Sommer riechen. Und Rosen. Die liebt er. Nachdem ein heftiges Unwetter einen der Rosenstöcke arg mitgenommen hat, wickelt er Kuhmist in ein Tuch und verbindet den Stock behutsam. Die Rose dankt es ihm und erblüht wenig später in neuer Pracht. 

Man sieht es ihm nicht an. Eduard ist ein Mann wie ein Baum, mit beeindruckend kräftigen Händen und einem wettergegerbten Gesicht. Aber unter dieser harten Schale verbirgt sich ein Schatz: ein weiches und ehrliches Herz. Niemandem kann er etwas zuleide tun. Nicht mal die Kaninchen schlachten. 

Zum Glücklichsein braucht er nicht viel, erst recht keine wilden Partys oder weite Reisen. Er ist eins mit sich und der Welt, wenn er mit seiner Angel am See steht und übers Wasser schaut. Wenn er dem Wind lauscht, der durch die großen Pappeln zieht. Wenn er sich an kalten Tagen in seiner Garage ein Bier mit dem Tauchsieder aufwärmt und durch die Spinnweben am Fenster in seinen großen Garten blickt. Sein Herz hätte so viel zu erzählen, da sind so viele Erinnerungen und Gedanken. Doch er lässt sie tief verschlossen in sich und bleibt still. 

Eduard ist gestorben. Er ist an einen Ort gegangen, den wir Lebenden nicht kennen. Einen Ort, von dem wir sagen, es sei still dort, ganz friedlich. Ich denke, es wird ihm gut gefallen an diesem anderen Ort, in dieser anderen Welt. Was uns bleibt, ist die Erinnerung. Die Erinnerung an einen Mann, der nicht viel sprechen musste, um viel zu sagen. Lassen wir ihn ziehen und lasst ihn uns in guter Erinnerung behalten.